Grinberg Methode: Der Kompass für den Körper
Der oberste Stock eines Hinterhauses in Berlin-Mitte. Mein Blick geht direkt zum Alex und streift dann weiter über die vielen bunten Häuserdächer der Stadt. Helles, weiches Licht fällt durch die Fenster. Dann öffnet sich eine Tür und mit gezielten Schritten biegt Merav Gur Arie um die Ecke. Ein breites Lächeln, ein herzliches Willkommen und eine Handbewegung zum Raum am anderen Ende des Flurs. Der Beginn einer Stunde Einzelarbeit mit der Grinberg Methode.
Am Anfang setze ich mich barfuß auf die Behandlungsliege, ein kleiner Sitz stützt meinen Rücken. Merav inspiziert eingehend meine Fußsohlen und hört, was ich zu berichten habe, wie ich mich fühle und was gerade ansteht. Seit 2005 lebt die Israelin in Berlin und arbeitet als lizensierte Grinberg Methode Trainerin in der Hauptstadt. Eigentlich wollte sie Schauspielerin werden und hat in den 90er Jahren nur nach einer guten Methode gesucht, um sich auf der Bühne noch besser entfalten zu können. Dabei entdeckte Merav, die in den siebziger Jahren entwickelte Heilmethode von Avi Grinberg. Merav war so begeistert von der Grinberg Methode, dass sie sich kurzerhand selbst ausbilden ließ und 2000 ihr erstes eigenes Studio in Tel Aviv eröffnete. Das Schicksal bietet halt doch die besten Möglichkeiten.
Anhand der Temperatur, Farbe, Hautbeschaffenheit und Flexibilität meiner Füße hat Merav sich ein erstes Bild meines Zustandes gemacht. Sie stellt mir einzelne, gezielte Fragen, dann darf ich mich ausziehen und die eigentliche Arbeit geht los. Sanft drückt Merav auf vereinzelte Körperstellen, gibt mir Anweisungen, wie ich den Atem nutzen kann und ähnlich der Akupressur wird mein Energiefluss langsam angeregt. Die 43-jährige spricht mit klarer Stimme und gibt den Weg vor, während ich mich mit geschlossenen Augen ganz auf meinen Körper einlasse. Alles darf sein. Dann ist es ein bisschen wie beim Topfschlagen. Merav tastet sich von außen mit gezieltem Druck zum Epizentrum meines Gefühlsstaus vor, während ich meine Atmung nutze, um von innen an den schmerzenden Punkt heranzukommen. Der Schmerz nimmt zu, das Klopfen wird heftiger und irgendwann trifft der Löffel den Topf. Bingo. Ich atme in den Schmerz. Spanne meine Muskeln auf Anweisung an und lasse abrupt locker. Wieder atmen. Ich erzähle, was ich fühle, sehe, schmecke. Welche Farbe hat meine Wut? Wie schmeckt meine Trauer? Es ist ein Bildband von Assoziationen, den mein Kopf freisetzt. Nun arbeiten Körper und Geist zusammen. Die Tür ist geöffnet.
Als Trainerin unterstützt Merav meinen Prozess, macht aber auch von Anfang an klar, dass es nicht ohne meine Beteiligung geht. Die Grinberg Methode ist keine Massage, bei der man mit geschlossenen Augen passiv auf den Punkt der völligen Entspannung wartet. Hier arbeiten Trainer und Klient Hand in Hand. Meine Mithilfe bestimmt maßgeblich den Erfolg der Session.
Doch wie genau geschieht dieses „Türöffnen“ und worin liegt der Erfolg der Grinberg Methode? Im Zentrum der Arbeit steht die Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für den Körper. Lang bestehende Muster und Handlungsweisen können durch das bewusste Lenken unserer Aufmerksamkeit gelöst und verändert werden. „Wenn wir beobachten wie wir in bestimmten Situationen reagieren, oder wie wir dem Leben ganz generell begegnen, können wir leicht erkennen, wo und in welchem Ausmaß wir uns selbst manipulieren. Aufmerksam zu verfolgen, wie diese Verhaltensweisen in unseren Körper eingebettet sind - beispielsweise in bestimmten Muskelreaktionen, unserer Atmung und unserer Körperhaltung - zeigt einen Weg, diese Muster zu verändern“, erklärt Merav.
Merav arbeitet dabei nicht nur in Einzelsession, sondern gibt auch Workshops für Gruppen von bis zu 20 Personen. Zentrales Thema ihrer Arbeit: Die Bestärkung der weiblichen Rolle. Angefangen hat diese Arbeit bei ihr selbst. „Als Frau suchte ich früh Wege, selbstbewusster und einflussreicher zu sein und meine Ziele zu erreichen. Ich hatte ein geringes Selbstwertgefühl und oft Angst, Fehler zu machen oder andere durch mein Handeln zu benachteiligen. Mein Wunsch war es, klarer und fokussierter zu sein.“ Je länger Merav im Laufe der Zeit mit anderen Frauen auf dem Gebiet arbeitete, desto mehr wurde ihr klar, dass es sich nicht um ein persönliches Thema handelt. „Diese Themen sind kulturell verankert. Heute können wir diesen Mindset und die Unterdrückung der weiblichen Autorität ablehnen. Nicht nur politisch, sondern jeder individuell in seinem Privatleben. Zu sehen, wie Frauen sich öffnen, zu ihrer Kraft zurückfinden und wachsen sind sehr kostbare Momente.“ 2005 begann Merav, Workshops und Seminare zu dem Thema anzubieten und Frauen zu unterrichten. Dabei stellte sie schnell fest: „Es ist meine Leidenschaft, mein politisches und berufliches Streben.“
Ob man lieber eine Einzelsession haben oder Themen gemeinsam in der Gruppe erarbeiten möchte, ist ganz individuell. Mir war es wichtig, einen vertrauten und geschlossenen Raum zu haben, während ich lerne, meine Gefühle wieder ohne Schuldgefühle zuzulassen. Andere Themen lassen sich besser in der Gruppe angehen und dabei den gemeinsamen Austausch nutzen. „Viele Menschen haben Probleme damit, ihre Emotionen zu spüren und zuzulassen. Unsere Kultur erlaubt es mittlerweile nur noch eingeschränkt, unsere Gefühle zu leben. Das hat einerseits dazu geführt, dass viele Menschen ihre Gefühle verdrängen. Andererseits sind unzählige Personen hyper-emotional und werden wie in einer Achterbahn von ihren Gefühlen mitgerissen.“
Und wirklich: Es ist eine Herausforderung in unserem analytischen, erfolgsorientierten Alltag wieder auf unseren Körper zurückzukommen. Und zwar nicht in Bezug auf Leistung. Nicht in Bezug auf das Erreichen der besten Zeit beim Jogging nach einem langen Arbeitstag. Oder die neueste Yogapose möglichst lange durchzuhalten. Oder beeindruckenden Sex mit dem neuen Date. Sondern einfach dabei, den Körper in seinem Sein und mit all unseren Gefühlen anzunehmen. Die Aufmerksamkeit auf unsere Füße, Beine, das Becken, den Oberkörper, unsere Arme, Hände und den Kopf zu lenken. In Geduld zu schauen, wie sich unser Atem in Bauch und Rücken verteilt und die Muskeln entspannen kann. In Achtsamkeit zu spüren, wie sich die Füße nach einem langen Tag stehen anfühlen. Dafür hat doch wirklich niemand mehr Zeit…
„Naturgemäß sind unsere Emotionen eine Erwiderung auf unser alltägliches Leben und alles, was uns begegnet“, fasst Merav zusammen. „Lassen wir unsere Gefühle einfach zu, so sind sie ein Teil von uns. Sie nähren unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, zu handeln und kräftigen unser gesamtes Wohlbefinden. Der Versuch, Gefühle zu vermeiden oder auszugrenzen, gleicht einem Abspalten von dieser uns nährenden Energie.“
Am Ende meiner Stunde laufen mir warme Tränen über die Wangen. Nicht aus Schmerz, sondern weil die Berührung mit einer Wut, die ich seit meiner Kindheit in mir habe, meinen gesamten Körper erbeben ließ. Eine etwa 20 Jahre alte Wut, die ich längst vergessen hatte. Doch mein Körper nicht. Wie ein alter Weiser hat er gütig alles mit mir durch die Weltgeschichte getragen und heute konnte ich diesem Gefühl wieder begegnen. Ich bin berührt und unglaublich dankbar. Merav gratuliert mir und wartet dann draußen auf mich. Langsam komme ich wieder im Hier und Jetzt an und spüre, dass dieses uralte Gefühl heute gehen durfte, um Platz für unzählige neue Möglichkeiten in meinem Leben zu schaffen. Ich fühle mich klar, gut und ganz bei mir.
Mehr Informationen zu Merav und der Grinberg Methode findet Ihr hier.
Fotos: Merav Gur Arie
Text: Maria Christina Gabriel