Der Krebs hat mir den Weg gezeigt
Vor wenigen Tagen wurde ich 57 Jahre alt. Eine besondere Zeit. Nicht nur, dass ich ein Jahr älter bin. Das Ende des Jahres rückt näher, man reflektiert und blickt naturgemäß zurück. Heute bin ich für jeden Moment meines Lebens dankbar. Die Höhen wie die Tiefen. Das war nicht immer so. Über 30 Jahre lang habe ich als Anwältin gearbeitet. Mein Alltag war vom Erfolg, Stress und dem beruflichen Aufstieg geprägt. Ich und mein Leben habe funktioniert und alles war scheinbar gut. Bis ich im März 2006 die Diagnose bilateraler Brustkrebs erhielt. Stufe 2. Von jetzt auf gleich brach mein Leben auseinander.
Alles wurde plötzlich zur Momentaufnahme, das Tempo meines Lebens wurde auf Zeitlupe heruntergeschraubt. Ich war völlig fassungslos. Der erste Arzt empfahl mir eine doppelte Mastektomie, die Entfernung der Gebärmutter, Chemotherapie und Bestrahlung. Ich erinnere mich, wie meine Knie weich wurden und der bittere Geschmack von Übelkeit sich in meinem Mund breitmachte, während er sprach. Ich dachte, ich müsste jeden Moment in Ohnmacht fallen. Das sollte wirklich mir geschehen? In meiner Familie gab es nie Krebs, ich hatte keinen Grund zu glauben, dafür anfällig zu sein. Und nun gleich beide Brüste? Ich erlebte einen Zustand von Schock und Machtlosigkeit. Ein Test nach dem anderen folgte. Wie betäubt und völlig eingeschüchtert stand ich alles durch: dreistündige MRTs, CTs, Nukleare Medizin…
Nach der Diagnose holte ich mir weitere Meinungen ein. Ein anderer Arzt empfahl mir eine doppelte Lumpektomie, ein Verfahren zur brusterhaltenden Therapie. Dazu eine weniger aggressive Chemotherapie und Bestrahlung. Ich folgte dieser Empfehlung. Bevor die eigentliche OP stattfand, entnahm man mir Knochenmark, um eine Streuung des Krebses wirklich ausschließen zu können. Die Behandlung war unglaublich anstrengend und kräftezehrend. Ich konnte einfach nicht fassen, dass mein Körper nun von all diesem Gift durchströmt werden sollte. Chemo löst zudem die Menopause bei Frauen aus. Daher entschied ich mich schon gleich zu Anfang dazu, durch Medikamente künstlich in die Menopause versetzt zu werden. Mir war klar, dass so einiges auf mich und meinen Körper zukommen würde, doch auf die harte Realität war ich nicht gefasst. Durch die Chemo bekam ich Osteopenie, eine Minderung der Knochendichte. Im Klartext stand ich kurz vor der Diagnose Osteoporose. Mein Gewicht schoss in die Höhe, ich war wie aufgeschwemmt und fühlte mich völlig entfremdet von meinem Körper. Manche Gerüche und Geschmäcker konnte ich vor lauter Übelkeit kaum ertragen. Ich schlief fast den gesamten Tag und konnte meinen Job nicht mehr machen. Es gab plötzlich nur noch mich, in diesem Körper, in meinem Bett. Gefangen.
Die Starrheit, die ich zum Anfang meiner Diagnose spürte, wich einem donnernden Weckruf. Mir wurde klar, dass ich schnellstmöglich herausfinden musste, was ich mit meinem Leben und der Zeit, die mir noch blieb, anfangen sollte. Es geschieht wirklich etwas ganz Erstaunliches, wenn man erfährt, dass man möglicherweise bald sterben könnte. Alles erhält einen neuen Wert, man sieht die wahre Schönheit in den Dingen des Alltags. Mir wurde bewusst, wie sehr ich immer auf alle anderen Menschen geachtet und mich selbst dabei völlig vergaß. Ich war gezwungen, mich nun wirklich ausschließlich auf mich selbst zu konzentrieren. Das war eine echte Herausforderung. Ich empfand eine Welle von Dankbarkeit und Wertschätzung: Meiner Frau und Partnerin gegenüber, den kleinen Momenten des Lebens und allem, was mir im Alltag begegnete.
Kurze Zeit später teilte man mir mit, dass man auf der rechten Brustseite den Krebs nicht vollständig hatte entfernen können. Nun wurde mir doch eine Mastektomie der rechten Brust empfohlen. Da auf der linken Seite Teile des Krebses unentdeckt gestreut hatten, wurde mir außerdem nahe gelegt, meine Lymphknoten auf dieser Seite vollständig zu entfernen. Noch mehr schlechte Nachrichten… In mir ergab sich etwas und mir dämmerte, dass der Rest meines mir noch verbleibenden Lebens vielleicht nur noch aus schlechten Nachrichten bestehen könnte. Die Idee vom eigenen Tod zwingt einen unvermeidlich zur Ehrlichkeit. Hoffnungslosigkeit machte sich breit und ich wusste nicht, wie ich weitere Untersuchungen und Operationen überhaupt noch durchstehen sollte. Schleichend entwickelte sich die Angst vor der Angst und zog wie Gift durch meinen Alltag. Was würde der Arzt beim nächsten Check-Up sagen, wie würden die Ergebnisse der Tests aussehen, welche Behandlungsmethoden könnten überhaupt noch helfen? Ich redete mir ein, einfach grundsätzlich vom Schlechten auszugehen. Jeden Morgen stand die große Frage im Raum: Willst Du leben oder sterben?
Nach den Operationen bekam ich wieder ein halbes Jahr lang wöchentlich Chemo. Um nicht zusätzlich auch noch Bestrahlung zu erhalten, entschied ich mich auch zur Mastektomie meiner linken Brust. Ich bekam Hormonblocker, insgesamt für eine Dauer von fünf Jahren. Jedes Wehwehchen konnte Teil einer neuen, dramatischen Diagnose sein. Eine Zeitlang hatte ich Kopfschmerzen, die etwa für drei Monate andauerten. Wieder wurden alle möglichen Tests gemacht, wieder lagen meine Nerven blank… Zudem beschäftigte mich nächtelang die Frage, warum mir das alles zugestoßen war. Warum ich? Was hatte ich falsch gemacht im Leben? Ich sah die Krankheit als ein Zeichen dafür, dass ich irgendwo im Leben falsch abgebogen war und mich dringend verändern musste.
Kursänderung: Ich entschied mich bewusst dazu, mit Freude und einer positiven Einstellung gegen diese Situation anzugehen. Mein Tagesziel lautete "Optimismus" und ich machte es mir zur Aufgabe, täglich etwas zu finden, das mich Freude fühlen ließ. Meine Familie und Freunde unterstützten mich auf diesem Weg, brachten mir gesundes Essen, ließen Kräuter- und Teemischungen für mich anfertigen, mein Zimmer war immer voller Blumen. Sogar Menschen, die ich kaum kannte oder längst vergessen hatte, sendeten mir plötzlich Karten und Briefe. Ich war völlig ergriffen.
2010 folgte die Brustrekonstruktion. Es gibt verschiedene Methoden und nachdem ich mir einige Meinungen eingeholt hatte, wollte ich die „DIEP Flap“, eine Eigengeweberekonstruktion. Die erste OP dauerte 12 Stunden. Es gab viele Komplikationen und ich brauchte noch zwei weitere OPs, bevor die Rekonstruktion abgeschlossen war. Das Ergebnis schockierte mich restlos. Narben verliefen kreuz und quer über meinen gesamten Oberkörper. Ich fühlte mich völlig deformiert, unglaublich hässlich und unansehnlich. Das sollte mein Körper sein? Noch heute macht mir der Anblick Probleme, obgleich es mit den Jahren schon besser geworden ist.
Zurück in die Normalität zu finden, war keine leichte Angelegenheit. Alle drei Monate musste ich zu Check-Ups, um auszuschließen, dass der Krebs zurück war. Der Gang zur Arztpraxis ließ mich jedes Mal innerlich erzittern. Die gesamte Zeit über gab es Menschen, die für mich beteten, Kerzen ansteckten und mir Segen und Licht schickten. Anfangs überraschte mich das und ich reagierte ziemlich zynisch. Obwohl ich katholisch erzogen worden war, gehörte ich nie einem bestimmten Glauben an. Doch irgendwie berührte mich der Glauben der Anderen und zündete eine Art Funken in mir. Während meiner Heilungszeit begann ich das zu machen, was wir in Amerika „Soul Searching“ nennen. Ich wollte herausfinden, was ich mit meinem Leben anstellen sollte. Ich begann, mich mit Astrologie zu beschäftigen, las unglaublich viel und begann, Tarotkarten zu nutzen. Eines Tages bekam ich ein Buch über Schamanismus in die Hände. Alles, was ich las, ergab für mich einen Sinn. Unser Eingebunden sein in die Natur, die Zyklen des Jahres, des Mondes, Ebbe und Flut, unser menschliches Leben… Mir wurde klar, dass ich selbst Heilarbeit leisten wollte. 2009, als ich noch mitten in der Zeit von OPs und endlosen Behandlungen war, begann ich mit einem schamanischen Lehrer in Seattle zu arbeiten. Ich beschäftigte mich auch mit dem keltischen Schamanismus und dem „Weg des Bienenschamanen“. Ganz langsam ließ ich, die Anwältin und Analytikerin, zu, dass ich vielleicht wirklich eine Gabe hatte.
Kurz darauf begann ich meine Ausbildung zur Schamanin bei den Four Winds und flog 2011 mit Alberto Villoldo nach Peru. Der Beginn meines eigenen heiligen Pfades. Ich genoss jeden Moment. Peru fühlte sich an, als würde ich endlich nach Hause kommen. Dieses Jahr schloss ich das Four Winds- und Sacket Trust-Program erfolgreich ab und bin nun selbst Schamanin.
Rückblickend muss ich gestehen, dass mich der Krebs gelehrt hat, das Leben wieder wertzuschätzen. Irgendwo auf meinem Weg, zwischen Akten und Prozessen, dem Alltag und dem Stress hatte ich vergessen, das Leben zu ehren, die Schönheit zu sehen. Der Krebs zeigte mir, dass ich nichts als selbstverständlich annehmen sollte. Gesundes Essen, Sport, genügend Ruhe und Schlaf… das sind heute die Hauptmerkmale meines Tagesablaufs. Ich treffe Entscheidungen, die meinem Körper gut tun. Durch meinen Krebs fand ich mich selbst wieder. Heute tue ich das, was mir wirklich Freude bereitet und nicht das, was ich machen sollte. Und: Ich kann voller Glück sagen, dass ich frei von Krebs bin. Als Belohnung und Wertschätzung meines Lebens kaufte ich mir vor kurzem einige richtig schöne und teure Schmuckstücke. Etwas, was ich mir vor meiner Erkrankung nie gegönnt hätte.
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Fotos: Robin Romeo
Text: Maria Christina Gabriel, Robin Romeo