Verletzlich sein
Schon seit einiger Zeit möchte ich mich näher mit dem Thema „Verletzbarkeit“ auseinandersetzen, muss aber sagen, dass ich gleichzeitig in einer inneren Scheu einen großen Bogen darum gemacht habe. Auslöser war das Feedback einer guten Freundin, die mir sagte, wie toll sie findet, dass ich mich mit dem Retreat so öffentlich mache und verletzbar werde. Das hat mich eine ganze Zeit lang verwirrt. Ein Teil von mir wollte ihr Feedback als negativ empfinden, ein anderer Anteil ging so starken Resonanz damit, dass ich wusste, hier liegt etwas Tiefes begraben.
Verletzlichkeit hat viele Gesichter für mich. Ich war jahrelang ziemlich gut darin, mein Inneres zu schützen, dicht zu machen und den Menschen nur einzelne Facetten von mir zu zeigen - aus Angst, nicht angenommen zu werden. Ich baute dicke emotionale Sicherheitsmauern auf und passte mich den anderen an. Das hat mich wiederum ziemlich unglücklich gemacht, da ich meine eigene Wahrheit dadurch (unbewusst) unterdrückte. Ich war faktisch nicht erreichbar und erlebte Schmerz und Einsamkeit hinter meinen Schutzmauern. Es war mein eigenes Gefängnis, das ich aus Angst geschaffen hatte.
Die Neugierde wurde irgendwann größer als meine Scheu vor Zurückweisung. Also musste ein anderer Weg her. Rückblickend habe ich einfach angefangen, andere Menschen zu studieren. Wie gehen andere mit ihren emotionalen Verletzungen um? Wie offen sind sie? Wie sehr lassen sie sich berühren? Ich habe viel mit Freunden gesprochen und festgestellt, dass tief in mir immer noch der Glaubenssatz verankert lag: Verletzlichkeit bedeutet Schwäche zu zeigen. Wow! Das hat mich erstmal sprachlos gemacht. Ich habe keine Ahnung, wo und wann ich das aufgeschnappt habe, doch mir war klar, dass dieser Glaubenssatz nicht zu mir gehört.
Also habe ich mich daran gemacht, das Ganze abzulösen und loszulassen. Darunter lag eine dicke Schicht Traurigkeit begraben und das elterlich Tröstende „Du brauchst deshalb doch nicht zu weinen“. Eine Zeit lang habe ich Rotz und Wasser geweint. Einfach, weil ich es durfte. Was für eine Befreiung! Dadurch sind viele Anteile meiner Kraft wieder zu mir zurückgekommen. Stein für Stein baue ich noch heute meine selbst erstellte Sicherheitsmauer ab.
Über die Jahre gelang es mir immer mehr, mein Sein ungeschützt und offen zu teilen - wenn auch noch mit viel Scheu und vorsichtigem Herantasten. Es gibt Phasen, da fühle ich mich offen und kann meine Tiefen teilen und dann wieder mache ich total dicht und erlebe es als eine Qual. Obwohl ich weiß, wie es geht, gehört auch dieses „Dichtmachen“ und die Angst vor der Verletzlichkeit noch zu mir. Es ist mein Weg. Manchmal kann ich darüber einfach nur noch lachen, denn ich weiß ja, dass es der Weg der Liebe ist und wenn man so will der spirituelle Fortschritt. Doch alle Konzepte, die wir lernen (oder auch wieder verlernen wollen), dürfen auf der Seelen-, Körper- und Geistesebene aufgenommen und umgesetzt werden. Und nur, weil mein Verstand die Antwort kennt, bedeutet das noch lange nicht, dass Körper und Seele zeitgleich mitziehen. Ich bin von Herzen dankbar, dass ich Menschen um mich habe, die mir diesen Raum geben, in dem ich mich austesten und auch wieder zurückziehen kann, wenn es mir zu viel ist und ich von meinem eigenen Mut überrumpelt werde.
Verletzbar zu sein, bedeutet diesen Schutzpanzer abzustreifen. Wir alle sind vereint in unseren Gefühlen, wir haben Verletzungen und Demütigungen erlebt, Enttäuschungen, wurden verlassen, fühlten uns schutzlos im Leben… Das macht uns authentisch, echt, nahbar. Wir brauchen keine Spielchen zu spielen.
Verletzlichkeit bietet die Möglichkeit, nahbar zu sein. Das ist eine große Stärke. Nahbar, aufnehmend, berührbar, fühlend und offen dem Leben gegenüber bin ich ein Nährboden für das Gute. Es bringt mich in meine Mitte, in meine Frequenz. Blicke ich jetzt zurück, erkenne ich, welchen Weg ich schon zurückgelegt habe und empfinde Stolz und Freude. Ich bin verletzbar, ja. Und meine Verletzlichkeit ist meine Stärke. Ist das nicht fantastisch?
Foto via winterfellis.com
Text: Maria Christina Gabriel