Über die Macht der Erinnerungen und Segen aus der Vergangenheit
Als ich heute von der Praxis nach Hause lief, erinnerte ich mich ganz plötzlich an zwei Menschen, denen ich letztes Jahr in Tibet begegnet war.
Es war ein altes Ehepaar, er schon halb blind und außer stande, sich selbst auf den Beinen zu halten. Sie mit Stock, tief gebückt und hinkendem Fuß; die grauen, wuscheligen Haare zu Zöpfen gebunden. Gemeinsam saßen sie auf der Erde, abgesetzt vor der Treppe zu einem buddhistischen Kloster und hielten einander an der Hand. Das Bild, die Erinnerung an die beiden, traf mich heute völlig unvermittelt im lauten Berlin und rief eine Kette an Erlebnissen zurück in mein Bewusstsein...
Ich selbst war erst am Morgen dieser Begegnung gemeinsam mit meinem Freund Christian an diesem Kloster am See Manasarovar angekommen. Wir waren am Ende unserer Kräfte, gestrandet auf knapp 4600 Metern nach einer unvorstellbaren Tortur am Tag zuvor. Während unseres Trekkings um den See hatten unser Guide und wir den Weg verloren, waren Stunden in gleißender Hitze über Sanddünen marschiert, das schwere Gepäck auf dem Rücken und kein Ende, Mensch, Haus, geschweige denn Handyempfang in Sicht. Wir hatten unser letztes Trinkwasser am frühen nachmittag aufgebraucht und es begann bereits zu dämmern, als wir Stunden später an einen breiten Fluß gelangten.
Wir berieten uns, wägten ab, doch es half alles nichts. Den Weg zurück würden wir im Dunkeln nicht schaffen. Also, raus aus den Klamotten, Rucksack, Gepäck, Schuhe auf den Kopf und rein in das klirrend kalte Wasser. Noch heute kann ich den Schock über die Kälte fühlen, die mich urplötzlich bis zur Brust einnahm. Der Durst, die Anstrengung, die Verzweiflung, alles wich für einen Moment und die Zeit stand völlig still. Ich dachte, wir hätten es geschafft, doch Pustekuchen. Auf der anderen Seite des Wassers angekommen stellten wir fest: die breiten Flussarme durchkreuzten das gesamte Gebiet!
Nach zwei weiteren Flussdurchquerungen waren meine Zehen blau von der Kälte, mein gesamter Körper zitterte und alles schmerzte nur noch. Seit Stunden spürte ich bereits ein Stechen und Ziehen im linken Knie. Der Meniskus war gerissen, was ich zu diesem Zeitpunkt (Gott sei dank) noch nicht wusste. Tränen aus Verzweiflung, Erschöpfung, Selbstmitleid und Schmerz liefen mir übers Gesicht, während ich mich wieder anzog und den Rucksack aufsetzte. Noch immer war kein Licht eines Hauses oder Autos in der Dämmerung zu erkennen und ich begann, zu beten und Mantren zu singen, um nicht in Panik zu verfallen.
Die Dunkelheit brach ein und um uns gegen die aufkommende Kälte und den Wind zu schützen, umhüllten wir unsere Körper mit unseren Schlafsäcke und schützten Köpfe und Ohren mit Kleidungsstücken, die wir uns umwickelten. Komisch müssen wir drei gestrandeten Seelen schon ausgesehen haben...
Nach einigen Schritten begann der Boden unter uns nachzugeben. Wir hatten uns tatsächlich geradewegs in ein Moorfeld navigiert. Konnte es wirklich noch schlimmer werden?! Ich war fassungslos. Was für ein Test sollte das hier bitte werden?! Ich begann einen empörten Dialog mit meinen Schutzengeln und schickte uns immer wieder Licht und Vertrauen. Vorsichtig gingen wir Schritt für Schritt, testeten mit dem Trekkingstock aus, in welche Richtung uns die Erde halten würde. Niemand sprach ein Wort, wir alle versuchten, irgendwie unsere Kräfte zu sparen und unsere Körper warm zu halten, während der eisige Wind über die Ebene fegte und die Sterne über uns begannen zu strahlen.
Irgendwann erkannten wir in der Dunkelheit ein Gottesgeschenk: Da flackerte tatsächlich ein Licht! Je näher wir kamen, desto klarer wurde es: ein Haus! Es dauerte noch eine gefühlte Ewigkeit, bis wir den weißen Flachbau und die Familie erreichten, die dort lebte. Nie habe mehr Dankbarkeit empfunden als in diesem Moment! Ich erinnere mich, wie liebevoll und selbstverständlich wir drei Verwaiste aufgenommen wurden. Das heiße, abgekochte Wasser, das uns gereicht wurde und wie fürchterlich groß der Durst und die Ungeduld waren, endlich etwas zu trinken. So saßen wir da, wortlos, dankbar, voller Hingabe und gerührt von so viel Menschlichkeit und Güte.
Wir verbrachten die Nacht auf dem Boden im Schlachterzimmer der Familie unter abgehangenen Fleischstücken. Ich erwachte am nächsten Tag mit einem neuen Ausdruck in meinen Augen. Etwas hatte sich verändert; Iris, Pupille, alles war plötzlich dunkel eingefärbt. Eine neue Tiefe.
Nach dem Frühstück schulterten wir uns die Rucksäcke wieder auf und verabschiedeten uns voller Dankbarkeit von dieser großzügigen, gütigen Familie. Alles schmerzte, doch es musste weiter gehen. Nicht weit entfernt sei ein Tempel wurde uns berichtet. Dort gibt es Schlafplätze und Essen für Pilger. Wir gingen die knapp vier Stunden bis zum Kloster. Als wir den Tempel erreichten, herrschte dort große Aufregung. Unser Guide fand schnell heraus, dass genau an diesem Tag, das erste Mal seit 40 Jahren ein heiliger Lama zu Besuch kommen würde. Es wurde geräuchert, zelebriert, gefegt und nach einer kurzen Beratung stimmten die Mönche des Klosters zu, dass wir zwei Westler dort bleiben und diesem großen Segen beiwohnen durften.
Wir ließen uns mitsamt unserer Erschöpfung von der Aufregung anstecken und fieberten dem Besuch des Lamas entgegen. Mein Selbstmitleid wich der Heiterkeit der Mönche. Nach und nach reisten Menschen auf ihren Mopeds und in Bullis an. Gegen nachmittag dann, als wir im inneren des Klosters auf Entdeckungstour waren, kam besagtes Ehepaar. Oder besser: Es wurde gebracht. Zwei Männer trugen die Frau und den Mann einzeln auf ihren Rücken. Gebeugt und schwitzend vom Gewicht betraten sie das Innere des Klosters und legten die beiden Greise auf dem Boden ab. Es wurden ein paar Worte gewechselt, dann verschwanden die Männer und ließen das Ehepaar auf der Erde zurück. Es war ein seltsamer Anblick und die beiden schienen völlig unbeindruckt von uns Westlern, die nun alleine mit ihnen im Hof des Klosters waren.
Kurze Zeit später reiste der Lama an und wurde mit viel Musik und großer Feierlichkeit vor den Toren des Klosters empfangen. Er segnete jeden Besucher bevor er ins Kloster ging, begleitet von einer großen Folgschaft an Menschen und vorbei an dem alten Ehepaar, das noch immer am Boden abgelegt war. Aufgeregt eilten die Leute ihm nach, die steile Treppe hinauf zum Tempel. Wir brauchten einen Moment, um zu begreifen, dass das Paar Hilfe brauchte, um Teil dieser großen Segnung im Inneren des Tempels zu sein.
Mit ein paar wortlosen Gesten nahmen sich zwei Männer und wir uns dem Paar an und trugen die beiden gemeinsam die Treppe hinauf in den Tempel. Oben angekommen berührte der Alte mein Gesicht mit einer so liebevollen Geste, dass ich noch jetzt eine Gänsehaut bekomme. Ich spürte die faltige, harte Haut seiner Finger um meine Wange und seine Liebe und Dankbarkeit erreichten sofort mein Herz. Wie unterschiedlich uns doch unsere Wege zusammengebracht hatten, um genau diesen Moment miteinander zu teilen!
Lange habe ich geglaubt, dass Christian und ich auf unserem Weg aufgehalten wurden, damit wir dem Lama begegnen durften. Hätten wir den See wie geplant umrundet, hätten wir dieses Erlebnis verpasst. Heute dämmerte mir mit dieser aufblitzenden Erinnerung, dass es viel mehr um den Moment der Hingabe ging, den ich erfahren durfte. Offenen Herzens bereit zu sein, sich wirklich berühren zu lassen. Mein Segen war nicht nur der des Lamas, sondern vor allem die menschliche Geste dieses Greises und die schützende, aufpäppelnde Liebe der Familie, die ihren wenigen Besitz und Essen freien Herzens und ohne Gegenleistung mit uns geteilt hatten.
Wer mich also heute heulend die Kastanienallee hat hinunterlaufen sehen: Es ist alles gut! Ich habe mit einigen Monaten Verspätung einen Segen angenommen, der in einer Erinnerungsschlaufe für mich geparkt war und befinde mich gerade in einem Menschlichkeits-Glücksrausch, hahaha. So könnte man es wohl formuliern. Überschüttet von dieser bedingunglosen Liebe, dem Erkennen und der Verbundenheit zwischen uns Menschen. Und genau diese Liebe an meine Mitmenschen hier in Berlin weiterzugeben - vor allem an die Personen, die ich noch nicht kenne und denen ich dieses Geschenk freien Herzens weiterreichen darf.
Wenn du gerade ebenfalls spürst, dass dich Erinnerungen erreichen, drücke sie nicht weg. Gib ihnen stattdessen Raum, lass es größer und präsenter werden und dich berühren. Spüre nach, welche Magie diese Momente für dich haben. Nicht nur auf der Ebene des Verstandes, sondern vor allem auf der Herzensebene.
Unsere Stärke liegt im Fühlen, in unserer Verletzlichkeit und dem Erkennen von Liebe.
Deine Christina
Fotos: Christian Borth, Christina Gabriel